Wie weiter?

Gedanken über die Welt und mich


Ein Kommentar

Wirtschaftswissenschaften kritisch betrachtet

In der universitären Lehre sind heute fast ausschließlich neoklassische, konsequent marktwirtschaftliche Ökonomen vertreten. Keine der massiven Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahre wurde von den professionellen und wissenschaftlichen Prognostikern verlässlich voraus gesagt (mit Ausnahme einiger Ökonomen ausserhalb des wissenschaftlichen Mainstream, deren Stimmen systematisch ignoriert wurden). Genau so wenig scheinen die etablierten Wirtschaftswissenschaften Rezepte zu kennen, um die globalen Wirtschafts- und Finanzsysteme wirksam zu stabilisieren. Grundlegende Fragen drängen sich auf:

Die neoklassische Wirtschaftstheorie beschreibt Gesetzmässigkeiten, nach denen das Wirtschaftsleben angeblich funktioniert. Die Gesetzmässigkeiten liessen sich exakt mit Hilfe mathematischer Formeln und Algorithmen beschreiben. Mit Hilfe dieser Mathematik sollen zuverlässige Prognosen über die Auswirkungen bestimmter politischer oder wirtschaftlicher Massnahmen auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Konsum usw. möglich sein. Angesichts der schier endlosen Reihe von Fehlprognosen der letzten Jahre erscheinen ernsthafte Zweifel angebracht.

Ein Artikel im Denknetz Jahrbuch 2014 „Verborgene Ethik des herrschenden ökonomischen Denkens“ von Karl-Heinz Brodbeck beschäftigt sich mit diesem Thema. Unter der Überschrift „Scheiternde Prognosen“ beschäftigt er sich zuerst ausführlich mit den oben beschriebenen fehlerhaften Vorhersagen. Danach beschreibt er, wie sich die Wirtschaftswissenschaften im Lauf der Geschichte von ihren Wurzeln in der Ethik hin zu einer angeblichen Naturwissenschaft – ähnlich der Physik – entwickelten. Wie die Physik oder andere Naturwissenschaften definieren sie Gesetzmässigkeiten, die sie als allgemein gültige und wissenschaftlich erwiesene Naturgesetze darstellen, bleiben jedoch, im Gegensatz zu den echten Naturwissenschaften, den empirischen Nachweis der Gültigkeit schuldig. Über ökonomische Prognosen schreibt Karl-Heinz Brodbeck:

„Tatsächlich ist der Grund darin zu suchen, dass die ökonomische Politikberatung im Tarngewand einer Wissenschaft nicht wirklich eine erklärende, sondern nur eine moralische Aufgabe erfüllt. Der Kern dieser Morallehre lautet: Märkte regeln Gesellschaften zu deren Bestem; Menschen sind primär Individuen, nicht soziale Wesen; Andere Formen der Vergesellschaftung als über das Geld sind als ‚vormodern‘ zurückzudrängen“.

Wie ich bereits in einem früheren Artikel beschrieben habe, gehe ich davon aus, dass jede in sich schlüssige Theorie letztlich auf nicht beweisbaren Annahmen, Prämissen, Paradigmen, Axiomen oder wie auch immer es nennen mag, beruht. Die Qualität der Theorie steht und fällt schlussendlich mit der Qualität der zu Grunde liegenden Annahmen. Im Zusammenhang mit den Wirtschaftswissenschaften spreche ich von gesellschaftlichen Paradigmen. Karl-Heiz Brodbeck beschreibt ausführlich die Paradigmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie und zeigt deutlich deren Schwächen und Fehler. Als Beispiel soll hier seine Beschreibung des so genannten Homo Oeconomicus dienen:

„Auch wenn man das Verhalten des homo oeconomicus ‚realistischer‘ gestaltet, so konstruiert man doch ‚Roboterimitationen von Menschen‘ (Lucas 1995), das heisst letztlich amoralische Wesen. Dennoch offenbart auch dieser Gedanke seine implizite Moral: Die von den Ökonomen aufgestellten Gesetze erklären nicht menschliches Handeln, sie wollen Menschenroboter programmieren.“

Zusammenfassend kann man sagen dass die neoklassischen Wirtschaftswissenschaften mehr den Charakter einer Morallehre oder Religion als den einer empirisch verifizierten Naturwissenschaft haben. Die von ihr etablierten Gesetzmässigkeiten sind nicht naturgegeben, sondern müssen offen diskutiert und ernsthaft in Frage gestellt werden.

Der oben zitierte Artikel ist online verfügbar:

http://www.denknetz.ch/externe-anstoesse/die-verborgene-ethik-des-herrschenden-oekonomischen-denkens

Ich empfehle zusätzlich die Vorlesung:

Grenzen der mathematischen Erkenntnis

von Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck


Hinterlasse einen Kommentar

ECOPOP – nur die halbe Wahrheit

Unterwegs im Interregio nach Basel: Überall Plakate gegen die ECOPOP Initiative – für eine solidarische Schweiz. ECOPOP zielt konkret auf die Angst vor Urbanisierung und Zubetonierung der Schweiz – auf den Mythos von eigenen Hüsli im Grünen. Der Tagesanzeiger hat kürzlich die ECOPOP Initiative in Hüslipop Initiative umgetauft. Die ECOPOP Initianten sehen die Ursache für den zunehmenden Verlust von Kultur- und Naturflächen einseitig im Bevölkerungswachstum. Das ist vorderhand nicht ganz falsch. Tatsächlich ist kaum zu bestreiten, dass mehr Menschen auch mehr Wohnraum, mehr Verkehrsflächen usw. benötigen. Was ECOPOP jedoch verschweigt, ist die Tatsache, dass auch die bereits ansässigen Bewohner der Schweiz immer mehr Wohnraum pro Kopf beanspruchen. Ebenso wird verschwiegen, dass es nicht überwiegend in bescheidenen Verhältnissen lebende Flüchtlinge sind, die zusätzlichen Wohnraum beanspruchen, sondern gut verdienende Expats die grosszügige Wohnungen für sich in Anspruch nehmen. Wären die ECOPOP Initianten ehrlich, so müsste sich ihre Forderung nach Beschränkung der Zuwanderung gezielt gegen gut verdienende Expats richten. Durch ihre Forderung nach Förderung der Geburtenkontrolle im Rahmen der Entwicklungshilfe suggerieren sie genau das Gegenteil. Bürgerliche Parteien haben richtig erkannt, dass sich die ECOPOP Initiative eigentlich gegen das Wirtschaftswachstum richtet (ohne dies explizit zu erwähnen) und bekämpfen sie daher vehement. Einzig die SVP ist gespalten: Während die Parteileitung um den Anschein der Wirtschaftsfreundlichkeit ringt, gibt es an ihrer Basis eine starke Strömung hin zu ECOPOP – es erwachen die Geister die sie selbst riefen.
Hinter der berechtigten Sorge um einheimische Natur- und Kulturlandschaften bleiben die wahren Ziele der ECOPOP Initiative unklar.
Der Ruf der Linken nach internationaler Solidarität wirkt vor diesem Hintergrund hilflos und wird, weil den meisten Wählern die Sorge um den eigenen Besitzstand näher liegt, wahrscheinlich wenig bewirken. Die Lösung der bürgerlichen Seite, Wohnraum zu verdichten, in die Höhe zu bauen, überzeugt ebenfalls nur teilweise – löst sie doch die mit dem Wachstum zwangsläufig verbundenen Fluten von Waren- und Personenverkehr, Energie- und Rohstoffverbrauch nicht.
Wir werden über Kurz oder Lang nicht umhin können, die grundlegenden Fragen, nämlich warum eine Volkswirtschaft beständig und zwanghaft wachsen muss und wie ein Gesellschaftssystem funktionieren könnte, das ohne diesen Wachstumszwang auskommt, zu beantworten. Dabei wären es die Antworten auf genau diese Fragen, mit deren Hilfe sich die offensichtlichen Widersprüche der ECOPOP Initiative auflösen liessen.
Es muss endlich erlaubt sein, die Frage nach Alternativen zum unbedingten Wachstums- Paradigma jenseits des längst überkommenen links – rechts Schemas in aller Öffentlichkeit ernsthaft zu diskutieren.